Orgelbau Kuhn AG, 2009

Historisierender Neubau

Orgel erbaut von
Neubau in Anlehnung an den Baustil von Joseph Bossard, 1721
Windladen
Schleifladen
Traktur
mechanisch
Registratur
mechanisch
Einweihung
06.06.2009
Experte
François Seydoux
Gehäuseentwurf
Uwe Schacht
Intonation
Rudolf Aebischer


www.orgelbau.ch/op=114140

Bellelay

III/P/26

Schweiz, Bern
Orgue principal de l'ancienne abbaye

© Bilder Orgelbau Kuhn AG, Männedorf/Schweiz

Orgelbau Kuhn AG, 2009

Historisierender Neubau

Orgel erbaut von
Neubau in Anlehnung an den Baustil von Joseph Bossard, 1721
Windladen
Schleifladen
Traktur
mechanisch
Registratur
mechanisch
Einweihung
06.06.2009
Experte
François Seydoux
Gehäuseentwurf
Uwe Schacht
Intonation
Rudolf Aebischer

Eintauchen in spätbarockes Kunsthandwerk

Haben Sie sich schon einmal vorgestellt, wie es sich wohl angefühlt hätte, in einer anderen Epoche zu leben? Zum Beispiel in der Zeit des alten Roms, im Mittelalter oder im Barock? Ein spannendes Gedankenexperiment. Für die Orgelbauer unserer Restaurierungsabteilung blieb es nicht allein bei den Gedanken. Erlebbares Eintauchen in die Zeit des Spätbarocks, ins Leben und Schaffen des Altmeisters Joseph Bossard (1665 - 1748) war die Devise bei einem Projekt der ganz besonderen Klasse: dem möglichst originalgetreuen Nachbau der verschwundenen Bossard-Orgel der ehemaligen Praemonstratenserabtei Bellelay aus dem Jahre 1721.

Spürbares Nacherleben

Die Aufgabenstellung für diesen historisierenden Neubau war ohne Übertreibung einzigartig: Nicht nur sollten Stil und Konzept Bossards rekonstruiert werden, sondern wir wollten auch sein Schaffen spürbar nachempfinden. Um eine möglichst realitätsnahe Beziehung zur damaligen Materialverarbeitung zu gewinnen, verwendeten wir alte Handwerkstechniken samt den dazugehörigen Werkzeugen. In der Familie unseres Orgelbauers Werner Zehaczek wurden diese über mehrere Generationen hinweg vererbt. Er habe grossen Respekt vor dem Kunsthandwerk der alten Meister, so Zehaczek. Bei den Arbeiten für Bellelay habe er viel lernen können.

Von der Silhouette zum Instrument

Unter den Hinweisen auf die verschwundene Orgel war die geheimnisvollste Spur wohl die Silhouette des Instruments. Wie ein Mahnmal war sie in die Westwand des Raumes eingebrannt und schien uns Ausdruck der Sehnsucht nach ihrem Wiedererstehen - eine Aufgabe, der sich das 6-köpfige Team unter der kundigen Leitung von Wolfgang Rehn, Geschäftsleiter Restaurierung, mit grosser Begeisterung annahm. Nebst Teilen des Schnitzwerks, die im Museum von La Chaux-de-Fonds lagerten, waren wir auch im Besitz der originalen Disposition. Diese befand sich vollständig niedergeschrieben im Silbermann-Archiv. Insgesamt kam uns sehr zugute, dass wir über genaueste Kenntnisse Bossardscher Merkmale verfügen, die wir bei der Restaurierung der Orgel von Sankt Urban (LU) im Detail studieren konnten (1993). Als wichtigen Teil der Vorbereitung und zu Bestimmung von Ausführungsdetails besichtigte das gesamte Team zudem weitere Bossard-Orgeln.

Wie Bossards Gesellen

Das Herausarbeiten der typischen Konstruktionsmerkmale habe unglaublich Spass gemacht, sagt Christoph Bettler. Sichtlich stolz auf das prächtige Ergebnis fügt er schmunzelnd an: «Ich hatte manchmal wirklich das Gefühl, wir könnten Bossards Gesellen sein.» Mit dem Anfertigen der Werkzeichnungen war Robert Kleine betraut. «Dem Schaffen eines Kollegen aus dem 18. Jahrhundert nachzuspüren und dessen Eigenheiten in die technische Planung einfliessen zu lassen, war eine aussergewöhnliche und reizvolle Herausforderung.» Die Handschrift Bossards liesse sich allerdings nur zum Teil in Zeichnungen darstellen, ergänzt er und betont, «dass das Gelingen auf der guten Zusammenarbeit im Team basierte.» Bei der Entscheidungsfindung war die Sicht der Gehäuseschreiner und Metallpfeifenmacher genauso wichtig wie etwa die der Orgelbaumeister und Konstrukteure.

Kreativer Höhepunkt

Für Wolfgang Rehn ist die neue «Bossardsche Kuhn-Orgel» einer der grossen kreativen Höhepunkte seiner Karriere: «Hier konnten wir jahrzehntelange Restaurierungspraxis erstmals in einem originalgetreu barocken Neubau umsetzen. Solche Gelegenheiten sind äusserst selten. In diesem Sinne erachte ich dieses faszinierende Projekt auch als ein wunderbares Geschenk. Allen Beteiligten ein herzliches Dankeschön! Den Auftraggebern, dem Team, das Ausserordentliches geleistet hat, und allen, die die Begeisterung für das Wiedererstehen der Orgel von Bellelay mitgetragen haben.»

In der Tat waren Atmosphäre und Erlebnisintensität zuweilen so stark, dass manch einer zum Dichter wurde. Jörg Maurer beschreibt den Prozess der behutsamen Annäherung an die «Verschwundene» mit den Worten: «Noch nicht, sie wächst langsam, zeigt wieder ein anderes Gesicht. Wir kommen immer wieder. Sie behauptet sich ... Sie ist ein versteckter Schatz, den wir entdecken.»

Technisches zu Konstruktionsmerkmalen und Intonation

Zu den typischsten Bossardschen Konstruktionsmerkmalen gehören u.a.:
- die Mensuren und Bauweise der Pfeifen,
- gespundete Windladen aus Nussbaum,
- die Ventilmasse und -formen
- die Holzpfeifen mit Zinnlabien,
- mehrfaltige Keilbälge,
- eine Kalkantenanlage,
- die Bauweise der Leitern und Treppen,
- schlichte Verbretterung der Seitenwände des Gehäuses

und Trakturdetails wie
- Wellenformate,
- Eisenwinkel auf Sammelachsen,
- die Art der Abstraktendrähte

Konsequent und zugleich frei

Die ehemalige Abtei in Bellelay wird nicht mehr für liturgische Zwecke verwendet und es bestanden keine gottesdienstlichen Anforderungen. Wir durften das Werk daher hinsichtlich Stimmtonhöhe, Temperierung, Tastenumfängen inklusive Subsemitonien äusserst konsequent konzipieren. Bei der Ausgestaltung der Details boten sich trotz strenger Rahmenbedingungen unzählige Möglichkeiten. Hier war denn auch Platz für künstlerische Freiheiten. Schliesslich kann es sich unmöglich um ein Bossard-Original handeln, sondern wir haben es mit einer echten «Bossardschen Kuhn-Orgel» zu tun.